Die Digitalisierung verändert einerseits die Rahmenbedingungen politischen Handelns in vielerlei Hinsicht. Andererseits muss sie in vielen Politikfeldern selbst Gegenstand oder sogar Mittel einer zukunftsorientierten Politik sein. Eines der zentralen Probleme dabei ist, dass die Wirkungen der Digitalisierung an einer einzelnen der vielen „Baustellen“ auf den ersten Blick oft einfach aussehen. In Wirklichkeit sind jedoch bereits diese Teilprobleme häufig sehr komplex und Kombinationen der verschiedenen Teilprobleme ist nur mit einer systematisch entwickelten und an den langfristigen realen Wirkungen orientierten Herangehensweise lösbar. Eine zeitgemäße Digitalpolitik muss insbesondere die Bereiche Recht, Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Entwicklung adressieren. Hinzu kommt die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Dabei müssen wir uns in vielen Bereichen von tradierten Vorgehensweisen lösen und eine querschnittliche, transdisziplinäre Zusammenarbeit etablieren, um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu sichern.
Einführung
Die Zeitschrift Internationale Politik titelte vor einiger Zeit: „Smarte Revolution: Wie digitale Kommunikation die Politik unter Druck setzt“. Diese Sicht auf die Dinge findet sich vielfach auch in der öffentlichen Diskussion wieder.
Die Dringlichkeit des Problems kommt hier angemessen zum Ausdruck. Doch inhaltlich lassen die Auswirkungen der Digitalisierung sich weder auf ein Kommunikationsproblem reduzieren noch ist die digitale Kommunikation das zentrale Problem. Wer sich etwas näher mit dem Thema befasst, ahnt, dass beide nur die sichtbare Spitze des Eisbergs bilden – und erkennt bei näherem Hinsehen eine verblüffende Ähnlichkeit vieler tradierter Vorgehensweisen und Rituale heutiger Politik zum Verhalten auf dem Passagierschiff Titanic im Frühjahr 1912.
Die Digitalisierung verändert einerseits die Rahmenbedingungen politischen Handelns in vielerlei Hinsicht. Andererseits muss sie in vielen Politikfeldern selbst Gegenstand oder sogar Mittel einer zukunftsorientierten Politik sein. Mathematisch gesprochen ist Digitalisierung in der heutigen Zeit also sowohl Bestandteil der Nebenbedingungen als auch der Zielfunktion wohlverstandener Politik.
Eines der zentralen Probleme dabei ist, dass die Wirkungen der Digitalisierung an einer einzelnen dieser „Baustellen“ auf den ersten Blick oft einfach aussehen. In Wirklichkeit sind jedoch bereits diese Teilprobleme häufig sehr komplex und Kombinationen der verschiedenen Teilprobleme – bei denen die digitale Welt im Übrigen längst keinen abgeschlossenen Raum mehr bildet – stellen bei Anwendung ingenieurmäßiger Methoden schwierig zu lösende Probleme dar. Ohne eine systematisch entwickelte und an den langfristigen realen Wirkungen orientierte Herangehensweise ist jeder Lösungsversuch jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Leistungsschutzrecht von 2013, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 oder die seit zehn Jahren versagende Monopolkontrolle bei Smartphone-Betriebssystemen und sozialen Netzwerken sind hierfür prominente Beispiele.
Allen nicht-technischen Akteuren sei dabei ins Stammbuch geschrieben: Wer nicht über eine solide Grundkenntnis der Technologien und ihrer Wirkungen verfügt, kann die Digitalisierung weder sinnvoll beurteilen noch gestalten. Das wird am Niveau der öffentlichen Diskussion oft erschreckend deutlich.
Allen technischen Akteuren sei jedoch mit der gleichen Deutlichkeit gesagt: Die Digitalisierung ist keine primär technische Frage, sondern eine der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Wer die Technik versteht, ist noch kein Digitalisierungsexperte, und schon gar nicht in einer bestimmten Anwendungsdomäne, in der ihm das Domänenwissen fehlt.
Digitalisierung
Seit etwa 30 Jahren sehen wir, dass Informationstechnologie eine erhebliche Rolle in der Masse der Unternehmen spielt; inzwischen stellt IT nicht nur das Nervensystem des Unternehmens dar, sondern macht typischerweise auch mehr als 50% der Kosten aus.
Seit etwa 20 Jahren haben wir als Einzelne begonnen, uns elektronisch zu informieren und auf elektronischem Wege zu kommunizieren, später auch Transaktionen durchzuführen.
Seit etwa 10 Jahren haben wir begonnen, dies alles nicht nur am (Laptop-)PC, sondern zunehmend auch auf mobilen Geräten zu tun, insbesondere Smartphones, die unser Verhalten deutlich ändern.
Wirkung des Smartphones auf den Menschen
Lassen Sie uns daher zunächst auf den Menschen und sein Smartphone schauen. Der Umgang mit dem kleinen Tamagotchi ist ja manchmal schon etwas bizarr. Von den Auswüchsen abgesehen: Innerhalb weniger Jahre hat es dieses Gerät dazu gebracht, dass nicht nur nahezu jeder von uns eines besitzt, sondern es auch den ganzen Tag mit sich trägt – noch nie hat eine bahnbrechende Technologie so schnell und tief unseren Alltag durchdrungen. Auf der Suche nach einer Erklärung finden wir eine sehr alte und eine sehr neue Seite der Medaille.
Für die sehr alte Seite der Medaille müssen wir ein paar tausend Jahre zurückschauen. Lassen Sie es mich platt sagen: Als der Menschen noch mit seiner Sippe im Wald lebte, war es für ihn lebenswichtig, stetig auf dem Laufenden zu sein, stetig in Verbindung mit seiner Sippe zu sein und ebenso stetig in dieser um Status und Unterstützung zu werben. Das kommt Ihnen bekannt vor? Die tiefen Schichten unseres Gehirn sind noch darauf programmiert. Das Smartphone und seine meistgenutzten Dienste können diese Grundbedürfnisse unseres Unterbewusstseins erfüllen. Hier liegt ein wichtiger Grund, warum unser Verhalten mit diesem Gerät oft so schwer zu kontrollieren ist. Das mag in Einzelfällen auf höchsten Führungsebenen sogar stärker ausgeprägt sein als im Durchschnitt (wie aktuell etwa in der US-amerikanischen Politik zu beobachten, auch wenn es hier um den Spezialfall „Anführer/Sippe“ geht – eine Verbindung, die dort an den klassischen Medien vorbei bemerkenswert gut funktioniert).
Die sehr neue Seite der Medaille hat meine Forschungsgruppe vor einigen Jahren in einer international beachteten Studie offengelegt (Pousttchi und Goeke 2011). Schaut man die Gründe für die Nutzung mobiler Dienste und Apps an, so stellt man fest, dass alle Arten von Effizienzkriterien sich in Wahrheit als nicht signifikant herausstellen: Zeit sparen, Geld sparen, Arbeitsaktivitäten unterstützen. Sind diese Faktoren vorhanden, nimmt der Nutzer sie gern mit – handlungsauslösend sind sie nicht. Was aber ist handlungsauslösend? Ist der Nutzer ehrlich, gibt es genau einen Grund, der mit weitem Abstand vor allen anderen Gründen rangiert: kill time. Dem Volk ist langweilig. Das ist die zweite, die sehr moderne Seite der Medaille der Nutzung von Smartphones mit ihren mobilen Diensten und Apps. Übrigens nicht nur dem Volk, denn auch dieses Nutzerverhalten lässt sich bis auf die höchsten politischen Führungsebenen beobachten, die deutsche Presse hat ja einige sehr hübsche Beispiele für den Umgang mit Smartphones von der Regierungsbank der vorherigen Bundesregierung fotografisch dokumentiert. Und die Vermutung, dass der Standardnutzer eher weniger diszipliniert ist als etwa die damaligen Bundesminister Gabriel und Schäuble, ist naheliegend.
Zusammen prägen diese beiden Seiten einerseits das Verhalten des Menschen mit dem Gerät und determinieren andererseits den künftigen Umgang mit der Technologie: Der Standardzugang zur digitalen Welt wird künftig in allen Szenarien das mobile Gerät sein, auch dort, wo es eben nicht effizient, vielleicht nicht einmal effektiv oder wo es überhaupt nicht sinnvoll ist. Weil der Mensch so tickt, wie er tickt. Weil er mit dieser Technologie impulsiv handelt und ein in Quantität und Qualität teils maßloses Informations- und Kommunikationsverhalten an den Tag legt. Mag das auch nicht für jeden einzelnen gelten, so gilt es doch für die weitaus überwiegende Masse der Nutzer, und die ist entscheidend. Je nachdem, wie man Systeme konstruiert, kann man diese Effekte zum Vorteil oder zum Nachteil der Menschen und der Gesellschaft nutzen. China zeigt mit seinem Social-Credit-System – unabhängig von der Frage, ob man westlichen Maßstäben oder denjenigen der chinesischen Regierung anhängt – eindrucksvoll das Potential dieser Technologie.
Auf der Meta-Ebene lässt sich sagen: Das Smartphone wird für den Einzelnen zur Fernbedienung für die elektronische und künftig auch für die reale Welt. Nicht nur das China-Beispiel zeigt, dass diese Beziehung keine Einbahnstraße ist: Heute sehen wir bei vielen Nutzern, wie bedingungslos sie reagieren, wenn das Gerät ihre Aufmerksamkeit verlangt. Morgen wird dies noch viel wörtlicher zu nehmen sein, wenn wir über integrierte IT-Funktionalität am und im Körper sprechen. Das ist Ihnen zu viel Science Fiction? Der Herzschrittmacher ist seit mehr als 50 Jahren für viele Menschen Alltag, vor zehn Jahren berichtete Heise online erstmals über Probleme mit Geräten, die sich mittels drahtloser Kommunikation im Körper des Patienten manipulieren ließen.
Technisches Instrumentarium der Digitalisierung
Digitalisierung klingt simpel: Aus analog mach digital. Schauen wir genau hin, finden wir zwei Bedeutungen des Begriffs. Was Digitalisierung im (alten) engeren Begriffsverständnis etwa für das Papierdokument ist, das wir einscannen und damit elektronisch speicher- und verarbeitbar machen, wird Digitalisierung im (neuen) weiteren Sinne für unsere gesamte Welt: Wir versuchen, alle Dinge um uns herum mit digitalen Techniken zu erfassen, damit sie elektronisch speicher- und verarbeitbar werden. Zusätzlich beinhaltet dieses neuere Begriffsverständnis nun auch, die Ergebnisse dieser Verarbeitung wieder in die reale Welt zurückzuspielen. Im einfachen Falle unseres Papierdokumentes wäre das etwa der Ausdruck eines bearbeiteten (z.B. automatisiert übersetzten) Dokumentes, in unserem neueren Begriffsverständnis kann dies durch Aktoren aller Art erfolgen, sei es etwa durch elektronische Anzeigen oder Robotik aller Art, etwa wenn der Sensor eines Reisebusses ein Hindernis vor dem Fahrzeug wahrnimmt und als Reaktion eine automatische Zwangsbremsung des Fahrzeuges erfolgt. In modernen Flugzeugen beeinflusst der Pilot schon lange nicht mehr direkt die flugkritischen Systeme, sondern nimmt eine Einstellung im elektronischen System vor, das seinerseits einen Elektromotor ansteuert, der die Veränderung vornimmt („fly by wire“).
Das Wesen der Digitalisierung ist also nichts anderes, als eine Verbindung der virtuellen und der realen Welt zu schaffen, dergestalt, dass diese schließlich miteinander verschmelzen. Nehmen Sie ein Beispiel aus der Industrie: Baut man heute eine moderne Fabrik, erschafft man diese zunächst simuliert im virtuellen Raum, in welchem man sie umfangreich testet und optimiert. Erst dann baut man die reale Fabrik als Abbild des Simulationsmodells, wobei man integrierte IT-Funktionalitäten und umfangreiche Sensorik verwendet, um den Betrieb der Fabrik auf der Basis von Echtzeitdaten weiterhin im virtuellen Modell überwachen und fortlaufend optimieren zu können. Schließlich kann man Aktorik nutzen, wenn man einzelne Funktionen oder die gesamte Fabrik mit Hilfe des virtuellen Modells betreiben und, beispielsweise für Umrüstungsvorgänge, fernsteuern will.
Technische Auslöser dieser Entwicklung sind vor allem die stetig steigende Rechenleistung und Miniaturisierung klassischer IT-Komponenten, die deren allgegenwärtige Integration in Technik aller Art ermöglichen. Zum vollständigen technischen Instrumentarium der Digitalisierung werden diese Komponenten insbesondere in Verbindung mit:
- flächendeckendem Einsatz von Sensoren und Aktoren einschließlich Audio- und Videoaufzeichnung sowie Robotik aller Art,
- Einsatz mobiler elektronischer Kommunikationstechniken zur Vernetzung und automatisierten Kommunikation mit sehr geringen Latenzzeiten,
- umfassender Erhebung, Archivierung und Verarbeitung sehr großer Datenmengen mittels Big-Data-Techniken,
- verschiedenen Techniken maschinellen Lernens,
- fortgeschrittenen Formen der Mensch-Computer-Interaktion, insbesondere Interpretation und Ausgabe von Sprache sowie Techniken zur Simulation der Realität für den Menschen (Virtual Reality) und zur Ergänzung der Realität für den Menschen um elektronisch zugeordnete Information (Augmented Reality).
Insbesondere die Kombination dieser Faktoren führt zu neuen Potentialen für umfassende Automatisierung im kognitiven und gemischt mechanisch-kognitiven Bereich. Ein aktuell diskutiertes Beispiel für ersteres ist etwa der automatisierte Vergleich von Vertragstexten, für zweiteres das autonom fahrende Fahrzeug oder die autonom fliegende Drohne.
Geht es um die Integration von Technik, stehen im Mittelpunkt der Entwicklung Cyber-Physische Systeme, etwa im Bereich der Produktion unter dem Stichwort Industrie 4.0. Geht es dagegen um soziale Interaktion oder die Integration des Menschen in digitale Prozesse, ist das Smartphone – wie im vorigen Abschnitt dargelegt – das zentrale Element.
Umgang mit Daten und künstliche Intelligenz
Ein weiterer interessanter Wirkmechanismus findet sich hinter der Art und Weise, wie wir mit Daten umgehen. Geht es um den Menschen, so sammelt das Smartphone unablässig Daten über ihn, seine Aktivitäten, seine Vorlieben, seine Handlungsmuster – von implantierten Chips noch nicht zu reden. Geht es um Cyber-Physische Systeme, so entstehen beispielsweise fast lückenlose Datensätze für jede intelligente Fabrik, jedes moderne Auto (wozu es noch lange nicht selbstfahrend sein muss) und jede automatisierte Zugangskontrolle. Künftig gilt das auch für jeden Haushalt, jede Straße, jede Smart City und vieles mehr. Was aber passiert mit diesen Daten?
Daten gehören zur Digitalisierung wie der Sand zum Strand (und je mehr davon da ist, umso besser ist das Urlaubserlebnis). Der Punkt ist: Die Digitalisierung ändert das Wesen des Umganges mit den Daten. Big Data ist eben nicht (nur) Datennutzung oder Data Mining alter Art, jetzt mit mehr Daten. Bei einer klassischen Datenanalyse macht sich der Wissenschaftler sehr viele Gedanken, wie ein Sachverhalt funktioniert (indem er die Kausalzusammenhänge zu verstehen sucht, in der Regel durch Vorstudien). Dann stellt er Hypothesen auf, fügt sie zu einem Kausalmodell zusammen, erhebt eine möglichst repräsentative Stichprobe an Daten und schließt von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit. Big Data (in seiner spannendsten und wichtigsten Anwendung, der Predictive Analysis) geht genau den umgekehrten Weg: Man erhebt alle Daten und schließt daraus auf den einzelnen Datenpunkt.
Dabei wird die Kausalität aufgrund der großen Datenmenge für verzichtbar erklärt und ausschließlich mit Korrelation gearbeitet. Im einfachsten Fall werden hierzu alle theoretisch denkbaren quantitativen Modelle automatisiert erzeugt, auf Vergangenheitsdaten getestet und dasjenige, das ex post die beste Prognosequalität aufweist, als bestgeeignet ausgewählt und für die Prognose ex ante verwendet. Und da im Zeitablauf die Datenmenge größer wird, wird dieser Vorgang regelmäßig wiederholt – das Modell lernt.
Dies ist die einfachste und häufigste Form datenbasierter künstlicher Intelligenz, wie intelligent immer man das finden mag. Noch häufiger ist nur die nicht-datenbasierte Anwendung simpler Wenn-dann-Regeln. Wie durchdacht die oft sind, sehen Sie, wenn Sie ihre Laptop-Tasche auf den Beifahrersitz des Autos stellen und ein nervtötender Piepton verlangt, dass Sie sie anschnallen. Oder wenn ein Vortrag durch ständig hin- und herfahrende automatische Jalousien gestört wird, obwohl kein Mensch im Raum sich geblendet fühlt. Für künstliche Intelligenz, die ihren Namen verdient, würde man dagegen beispielsweise künstliche neuronale Netze benötigen – wirklich fortgeschrittene Techniken verbergen sich jedoch am seltensten hinter der prestigeträchtigen Verwendung des Begriffes „KI“.
Wenn wir auf unser Big-Data-Modell zurückkommen und nun das das Verhältnis Vergangenheit/Zukunft verallgemeinern zu bekannte/unbekannte Daten, handelt es sich vereinfacht gesagt um die n-dimensionale Variante von „Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch folgende anderen Bücher gekauft“. Die Schwächen dieses Ansatzes sind leicht erkennbar – ebenso aber bei geeigneter Anwendung auch die Treffgenauigkeit der Vorhersage!
Schauen wir in die Politik: Der erste Wahlkampf, der mit Hilfe dieser Techniken entschieden wurde, war der US-Präsidentschaftswahlkampf 2012. Das Ziel war hier nicht die Prognose des Endergebnisses (wie diese bei ungeeigneter Anwendung schief gehen kann, haben wir 2016 gesehen). Das Ziel des nur etwa 40-50 Personen umfassenden Data Science Teamsder Obama-Kampagne war statt dessen ein klassisches Operation-Research-Ziel: optimaler Ressourceneinsatz.
Ein taktisches Beispiel ist die optimale Gestaltung von Webseiten, E-Mails und Social-Media-Postings. Hier kam vor allem intensives A/B-Testing zum Einsatz: Welches Posting mit welcher Farbe, welchem Foto und welcher Überschrift funktioniert am besten bei welcher Zielgruppe? Die manuelle Anwendung war dabei eigentlich etwas altmodisch – wenn man große Datenmengen hat, ist so etwas automatisiert optimierbar. Netflix etwa weiß sehr genau, wie bestimmte Gestaltungselemente und Handlungsstränge aussehen müssen, um die Zuschauerzahl zu maximieren.
Ein strategisches Beispiel: Die Schwächen des Mehrheitswahlrechts erlaubten sehr einfach, diejenigen Bundesstaaten zu identifizieren, bei denen mit dem geringsten Ressourceneinsatz eine Wende herbeigeführt werden konnte. So berichtete der Chef Scientist der Obama-Kampagne etwa nach der Wahl, dass der Gewinn einer Wählerstimme für seine Partei in Colorado durchschnittlich 6-7 Dollar, in Kalifornien aber nur etwa einen Cent gekostet habe. Neben dem Masseninstrument TV-Werbung war hier auch persönliche Ansprache wichtig: Wer sind die lohnendsten (also unentschlossenen, aber überzeugbaren) Zielpersonen, wie müssen sie über die verschiedenen Kanäle hinweg konsequent angesprochen werden? Dies geht bis hin zum optimalen Einsatz des knappen Gutes „Helfer im Haustürwahlkampf“, die wiederum ihre Besuchserkenntnisse sofort in der Datenbank hinterlegten.
Man könnte an dieser Stelle natürlich auch das Netflix-Beispiel weiterdenken. Ob einige inhaltliche Botschaften im Wahlkampf dann möglicherweise nicht aus Überzeugung, sondern aufgrund der Big-Data-Analyse mit dem Ziel eines bestimmten Wechselwählergewinns gewählt wurden, wurde öffentlich nach der Wahl nicht thematisiert. Aber so richtig neu wäre das im Wahlkampf ja gar nicht – nur dramatisch effektiver und effizienter als in der vor-digitalen Ära.
Und der Schritt hin zum vollständig erfolgsoptimierten Wahlprogramm, das keinerlei inhaltliche oder wertebasierte Fundierung mehr besitzt, wäre nicht mehr groß. Aber auch das soll es ja sogar in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon gegeben haben – nur eben bisher nicht automatisiert und algorithmengesteuert. Kein schöner Gedanke? Sie sind aber nicht besonders fortschrittlich. Und Sie haben ein Problem: Verwendet eine Seite derartige Techniken und die andere nicht, ist die erstere dramatisch im Vorteil. Wo das eine Gesellschaft hinführt? Nicht (immer) Bestandteil der Zielfunktion.
Wie dem auch sei: Wie die Obama-Wahlkampagne, so sind auch vorausschauende Wartung von Maschinen, Abwanderung von Kunden und Prognose von Kriminalität eher einfache Anwendungsbeispiele. Wenn Sie aber in 10 bis 15 Jahren kurz vor einem Schlaganfall oder Herzinfarkt stehen sollten, wird es durch datenbasierte Techniken eine gute Chance geben, dass dies erkannt, Sie bereits im Vorfeld in eine geeignete Einrichtung gelotst und dort die für Ihren speziellen Fall bestmögliche Behandlung gewählt wird, die das Ereignis verhindert oder seine Auswirkungen minimiert. Herzlichen Glückwunsch: Ihre Überlebenschance steigt durch Big Data dramatisch an. Wieviel Überwachung ihres kompletten Lebens wären Sie zuvor bereit, dafür in Kauf zu nehmen? Vielleicht eine Frage, die sich lohnt, politisch (und wertebasiert) zu diskutieren.
Wertschöpfungsnetze und Plattformen
Lassen Sie uns noch einen kurzen Blick auf die Digitale Transformation von Unternehmen und ihre Auswirkung auf das Wertschöpfungsnetz im Endkundengeschäft werfen. Diese Problemstellungen sind nicht nur für das Verständnis der Digitalisierung wichtig, sondern führen auch direkt zu strategischen Fragestellungen der Wirtschafts- und der Wettbewerbspolitik; zudem ergeben sich Aspekte, die mutatis mutandis auf die Verwaltung anwendbar sind. Dabei sind drei Dimensionen der Digitalen Transformation zu unterscheiden.
Die erste Dimension ist das Leistungserstellungsmodell, also die Frage, wie sich die Organisation und die Prozesse des Unternehmens verändern müssen, um die Möglichkeiten neuer Technologien zu nutzen. Damit beschäftigt sich die Wirtschaftsinformatik seit mehr als 25 Jahren. Und eigentlich wissen wir hier unter dem Stichwort Business Process Reengineering relativ genau, was zu tun ist. Für große Unternehmen ebenso wie für die Verwaltung stellen sich hier jedoch besondere Herausforderungen, da vielfach systemwidrige Einflüsse und dysfunktionale Organisationsformen, die sich auch in der IT-Organisation und in der Systemlandschaft widerspiegeln, einer erfolgreichen Digitalen Transformation entgegenstehen. Insbesondere in der Verwaltung, aber auch in Großkonzernen, werden dann nicht selten unter dem Stichwort „Digitalisierung“ IT-Lösungen eingeführt, die eine bestehende dysfunktionale Logik verfestigen und damit das Problem vergrößern.
Die zweite Dimension ist das Leistungsangebotsmodell, also die mittelbare und unmittelbare Wirkung des Einsatzes digitaler Technologien und Techniken auf die Verbesserung bestehender Produkte und Dienstleistungen, auf das Angebot neuer oder sogar neuartiger Produkte und Dienstleistungen sowie auf Veränderungen der zugehörigen Erlösmodelle. Davon spricht heute jeder, der von Digitalisierung redet. Die Nutzung neuer Möglichkeiten im Leistungsangebotsmodell unterliegt allerdings in klassischen Unternehmen häufig erheblichen Limitationen, wenn die Digitale Transformation des Leistungserstellungsmodells noch nicht abgeschlossen ist, während neu entstehende Wettbewerber ohne diese Hypothek agieren können. Im Falle der Verwaltung ist das Problem noch viel grundlegender: Oft ist das Leistungsangebotsmodell (und damit seine Verbesserung) gar kein Thema – die wichtigste Empfehlung hier kann nur lauten, die Frage „Warum machen wir das eigentlich?“ zum Ausgangspunkt jeder Diskussion zu machen.
Die dritte Dimension ist das Kundeninteraktionsmodell, also die Frage, wie die Unternehmen und ihre Kunden in Zukunft miteinander interagieren. Davon wird zwar heute bereits gesprochen, unter dem Stichwort Plattformökonomie. Geht es nach den Folien der Berater, soll (und kann) heute jedes Unternehmen eine Plattform werden nach dem Vorbild von HRS, Uber oder AirBnB. Abgesehen davon, dass das schwierig wird (oder genau genommen: für die meisten Unternehmen unmöglich), springt auch die Analyse des zugrundeliegenden Problems erheblich zu kurz, wie fast alle Analysen, die sich auf das Abgucken des Gestern und Heute aus dem Silicon Valley beschränken.
Was aber ist dort die wichtigste Wette auf die Zukunft? Sie hat wenig mit Startups zu tun, dafür aber umso mehr mit dem Kundeninteraktionsmodell – allerdings eine Abstraktionsebene oberhalb der Plattformen (man kann das durchaus als „Platform of platforms“ bezeichnen). Denn die digitalen Marktführer benötigen, um ihren Börsenkurs auch nur halten zu können, dringend Wachstum und weitergehende Wachstumsphantasien. In der digitalen Welt können sie aber nicht ausreichend wachsen, solange immer noch 80 Prozent der Wertschöpfung in der realen Welt stattfinden. Also müssen sie ihre Marktdominanz aus der virtuellen in die reale Welt ausdehnen.
Und nun stellen wir fest, dass einige der zuvor betrachteten Aspekte im Endkundensektor in interessanter Weise zusammenwirken. Denn wer über sehr große und querschnittliche Endkundendaten verfügt und Big-Data-Techniken – insbesondere unter automatisierter Verwendung induktiver Statistikmodelle – auf diesen anwenden kann, wird zum Aufbau neuartiger Empfehlungs- und Marketing-Systeme befähigt, mit denen eine weitgehende Monopolisierung der Endkundenschnittstelle möglich ist („erster Ansprechpartner des Kunden“), wobei dieser dann auktionsweise (also mikroökonomisch betrachtet unter vollständiger Abschöpfung der Marge) an den eigentlichen Erbringer der Leistung vermittelt werden kann.
Und wie wir zuvor gesehen haben, liefert – aufgrund seiner Eigenschaften und des Nutzerverhaltens – kein Instrument bessere Daten hierfür als das Smartphone. Eine solche Marktmacht entsteht also in erster Linie durch die Kontrolle marktführender Smartphone-Betriebssysteme (z.B. Apple, Google), annähernd mithalten können allenfalls dominierende soziale Netzwerke (z.B. Facebook/WhatsApp, WeChat) und mit reichlichem Abstand eventuell noch dominierende elektronische Einzelhändler (z.B. Amazon, AliBaba). Im Gegensatz zu Plattformen, die stets auf der Ebene einer Branche agieren, betrifft diese Art der Schnittstellenmonopolisierung gleichzeitig alle Branchen, die Produkte oder Dienstleistungen für Endkunden anbieten oder herstellen – und durchaus auch Plattformen (zur Wirkungsweise siehe (Pousttchi und Hufenbach, 2014; Pousttchi und Dehnert, 2018)). Die makroökonomischen Auswirkungen sind evident. Und das geflügelte Wort „Old Economy schafft Arbeitsplätze, New Economy schafft Börsenwert“ bekommt möglicherweise eine ganz neue Relevanz.
Folgen
Ohne den Anspruch zu erheben, diese Themenfelder in einem solchen kurzen Beitrag auch nur annähernd umfassend behandeln zu können, sollen im Folgenden einige Denkanstöße zum Einfluss der Digitalisierung auf die Politik, zum Einfluss der Politik auf die Digitalisierung und zu Elementen einer zeitgemäßen Digitalpolitik gegeben werden.
Einfluss der Digitalisierung auf die Politik
Die Rahmenbedingungen für politisches Handeln haben sich verändert. Die speziellen Eigenschaften und Wirkungen der digitalen Technologien, die Aufmerksamkeitsökonomie, die Funktionsweise der heutigen Medienwelt und ein verändertes Werte- und Handlungssystem bei vielen Menschen wirken dabei zusammen und führen nicht immer zu besseren Ergebnissen. Zudem verstärken gerade digitale Medien die Tendenz von Beteiligten, der Taktik den Vorrang gegenüber der Strategie einzuräumen.
Insbesondere in Wahlkämpfen, aber auch im Alltagsgeschäft, ist der Umgang der Bewerber und Mandatsträger mit Plattformen wie Facebook oder Twitter inzwischen neben der eigenen Webseite oft zum zentralen Element der Kommunikation geworden. Bei den genannten Plattformen ebenso wie bei der marktführenden Suchmaschine Google ist die Frage, wie das eigene Profil und die eigenen Inhalte dargestellt sind, von zentralem Interesse für jeden, der beim Wähler und bei den klassischen Medien um Aufmerksamkeit und positive Aufnahme wirbt.
Damit einher geht die Akzeptanz des Paradigmas der jeweiligen Plattform einschließlich ihrer Algorithmen als exogen gegebene Rahmenbedingungen. Die Macht der Plattformen in diesem Kontext wird in Deutschland übrigens bisher auffallend wenig hinterfragt, zumal diese hier stark am Wohlwollen der Politik interessiert sind und sich entsprechend verhalten.
Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür lieferte Google im Herbst 2017, als mitten in der Hochphase des Bundestagswahlkampfes alle Kandidaten angeschrieben und ihnen überraschend die Möglichkeit geboten wurde, die prominent rechts oben in den Google-Suchergebnissen angezeigte sogenannte „Such-Infobox“ für die Dauer des Wahlkampfes mit einem selbst verfassten Text zu ergänzen, um ihre Standpunkte darzustellen. Schön, wenn man mitten im stressigen Wahlkampf von einem marktbeherrschenden Weltkonzern so hilfreich unterstützt wird…
Von der methodischen Wirkung zu trennen – wenn auch in besonders starkem Maße durch diese beeinflusst – ist die inhaltliche Dimension der Digitalisierung in der Politik.
Einfluss der Politik auf die Digitalisierung
Die Zusammenhänge der Digitalisierung sind komplex. Die Wirkung der Technologie auf den Menschen, auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge und auf die Gesellschaft ist keine Einbahnstraße und die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren erschließen sich bei oberflächlicher Betrachtung kaum – keine gute Voraussetzung, um im politisch-medialen Raum heutiger Prägung zu geeigneten und gar zukunftsweisenden Lösungen zu gelangen.
Ein beeindruckendes Beispiel ist die Diskussion um die Netzneutralität, die seit einigen Jahren existiert und inzwischen teils pseudoreligiöse Züge aufweist. Ich mache häufig die Probe aufs Exempel und frage in einer Diskussionsgruppe nach den Meinungen zu diesem Thema. Interessant ist, wie viele Diskutanten dann eine festgefügte (in aller Regel positive) Meinung vortragen und auch Einzelargumente nennen – auf die nachfolgende Frage „Können Sie den Begriff bitte in einem kurzen Satz erklären?“ jedoch mehr oder minder wortreich ihre Ahnungslosigkeit dokumentieren.
Dabei ist Netzneutralität einfach zu erklären: Jedes Datenpaket ist mit gleicher Priorität zu transportieren, unabhängig davon, welchen Inhaltes es ist, wer es versendet hat und wer es empfangen soll. Das klingt zunächst einmal gut – das Netz soll im Grundsatz nicht parteiisch sein, sondern neutral. Es lassen sich jedoch zahlreiche Gegenbeispiele finden, von einem eventuellen Vorrang für telemedizinische Anwendungen (wenn Sie ebenfalls ein Schlagwort erfinden wollen: „digitale Rettungsgasse“) über die Frage fairer Geschäftsmodelle für die Telekommunikationsindustrie bis hin zum Beispiel des kleinen Unternehmens auf dem Dorf, das seine Arbeitsplätze nur dort halten kann, wenn es über eine schnelle Datenanbindung verfügt und dessen Datenpakete mit denen eines Jugendlichen konkurrieren, der die gleiche Bandbreite benötigt, um über ein Videoportal Musik zu hören und der dabei das Video gar nicht betrachtet (übrigens ein durchaus übliches Verhalten). In diesen und weiteren Fällen könnte eine unterschiedliche Priorisierung von Datenpaketen durchaus sinnvoll sein.
Wenn ich ein marktführender Suchmaschinenkonzern wäre, dem ein marktführendes Videoportal gehört, wäre ich allerdings stark daran interessiert, diese differenzierte Diskussion zu vermeiden und statt dessen ein positiv besetztes Schlagwort wie „Netzneutralität“ in die Diskussion einzuführen und in den Vordergrund zu stellen. Idealerweise finde ich darauf aufbauend sogar jemanden, der mir mit öffentlichen Geldern Breitbandnetze als Produktionsmittel kostenlos zur Verfügung stellt.
Wenn ich jedoch als Politik den Auftrag hätte, ein Land ressourcenoptimal in die digitale Zukunft zu führen, würde ich auf einer seriösen Diskussion bestehen wollen – die in diesem Fall nur über einzelne Anwendungsszenarien und nicht über ein allgemeines Schlagwort führt.
Was mit diesem Beispiel gezeigt werden soll, ist nicht, wer im Einzelfall Recht hat, sondern wie oberflächlich die Debatte geführt wird. Dies trifft selbst für einfachere Themen wie Breitbandausbau zu (bei dem gleichwohl sehr große Summen in Rede stehen). Geht es stattdessen um kompliziertere Begriffe wie Blockchain oder künstliche Intelligenz, wird klar, dass wir so nicht weiterkommen.
Der Einfluss der Politik auf die Digitalisierung darf weder von einer zufallsgeleiteten Diskussion um Schlagworte und kurzfristiges Medienecho noch von der direkten oder indirekten Agendasetzung durch Unternehmen von der US-Westküste bestimmt werden. Stattdessen müssen wir zunächst nüchterne, systematische Analyse betreiben und dann die digitale Welt, in der wir morgen leben werden, zum Wohle der Gesellschaft aktiv gestalten.
Handlungsfelder einer zeitgemäßen Digitalpolitik
In einer ersten Näherung lassen sich vier große Bereiche für eine zeitgemäße Digitalpolitik bestimmen: Recht, Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Entwicklung. Hinzu kommt die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung.
Die Setzung von Recht in der digitalen Gesellschaft ist eine sehr herausfordernde Aufgabe. Sie wird dadurch nicht leichter, dass der Gesetzgeber sich hier bisher stark zurückgehalten hat und zudem in vielen Bereichen ein scheinbares Gewohnheitsrecht entstanden ist, das teilweise dem geltenden Recht widerspricht und teilweise Lücken in der bestehenden Gesetzgebung exzessiv ausnutzt, man denke nur an Verbraucherschutz, Wettbewerbsrecht oder Steuerrecht. Mangelnde Rechtsdurchsetzung führt dabei nicht selten zu dem Problem, dass Regulierung zur Folge hat, die Marktchancen deutscher und europäischer Unternehmen gegenüber der internationalen Konkurrenz noch weiter zu verringern – das kann nicht das Ziel sein. Und die zentrale Frage von Datennutzung versus Datenschutz sollte keinesfalls „aus dem Bauch heraus“ entschieden werden, wie es im Moment den Anschein hat.
Rechtsschöpfung hat sich in dieser komplexen Materie deduktiv als wenig erfolgreich erwiesen, die beiden Negativbeispiele Leistungsschutzrecht und Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurden ja eingangs bereits genannt. Als aussichtsreichere Variante erscheint, induktiv eine Vielzahl denkbarer Szenarien zu bilden, in diesen jeweils zu entscheiden, was als rechtmäßig gelten soll, sie zusätzlich einer Szenarienanalyse zur Abschätzung der Wirkungen zu unterziehen und aus den Ergebnissen Stück für Stück Regeln abzuleiten, die tatsächlich das gewünschte Ergebnis erzielen. Hier wäre reichlich Bedarf für juristische Dissertationen, die tatsächlich der Weiterentwicklung des Rechts dienen.
Sicherheit ist ein Handlungsfeld, dessen hohe Relevanz von jedermann anerkannt wird und das dennoch im persönlichen wie im geschäftlichen oder sogar staatlichen Bereich in beispielloser Weise vernachlässigt wird. Dies wird durch die Architektur des Internet begünstigt, das auf Protokollen und Diensten beruht, die bei ihrer Entwicklung nicht für dauerhafte und flächendeckende Anwendung konzipiert waren und die über keinerlei systeminhärente Sicherheit verfügen.
Die Ereignisse der letzten Jahre haben deutlich gemacht, dass Cybersicherheit sowohl im Bereich der äußeren Sicherheit – also als Bestandteil der Landesverteidigung – als auch im Bereich der inneren Sicherheit – also als Bestandteil des Schutzes vor Kriminalität – von hoher Bedeutung ist. Die wichtigste Maßnahme muss hier sein, das System wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und die dafür zuständigen staatlichen Organe, Streitkräfte und Polizei, durch Ausstattung und Ausbildung zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben im digitalen Raum zu befähigen. Es ist selbstverständlich, dass Betreiber von Diensten aller Art hierbei unterstützen, aber es ist ebenso selbstverständlich, dass sie hierbei nicht die zentrale Rolle übernehmen oder staatliches Handeln ersetzen können.
Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes beinhaltet naturgemäß die Förderung von Unternehmensneugründungen im Bereich der Digitalwirtschaft, Unterstützung insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen bei der Bewältigung der Digitalen Transformation und den Aspekt der Bildung und Ausbildung.
Neben diesen öffentlich viel diskutierten Aspekten sollte aber die dritte Dimension der Digitalen Transformation, das Kundeninteraktionsmodell, nicht außer Acht gelassen werden. Die Wirkmechanismen wurden in Abschnitt 2.4 erläutert. Bleibt die derzeitige Marktmachtkonstellation unverändert, wird ein großer Teil der heimischen Wirtschaft in eine digitale Kriseungeahnten Ausmaßes steuern und die Wirkung auf den Arbeitsmarkt wird stärker sein, als diejenige durch die Automatisierung. Die Frage der Sammlung und Nutzung von Endkundendaten ist eine strategische Frage für die wirtschaftliche Zukunft in Deutschland und Europa. Hierbei sind Verbote nicht aussichtsreich, sondern massive europäische Innovation und intelligente Regulierung angezeigt. Die Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen ist dabei wenig hilfreich – denn sie unterstellt, dass der Gewinn aus den digitalisierten Geschäftsmodellen zu einem erheblichen Teil in unserer Verfügung bleibt. Wird der bisherige Zustand fortgeschrieben, wird dies jedoch eher nicht der Fall sein. Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist (Lanier 2013).
Auch im Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung und in ihrer Schnittmenge mit der wirtschaftlichen Entwicklung erscheint die deduktive Entwicklung allgemeinverbindlicher Normen nicht sinnvoll. Schaut man in den Bereich der Arbeit, so wird weder das Pressen digitaler Geschäftsmodelle in den Rahmen des bisherigen Arbeits- und Tarifrechtes noch dessen weitgehende Abschaffung durch unregulierte Werkvertragsverhältnisse, einschließlich der Abschaffung nahezu aller sozialen Errungenschaften, der Situation gerecht. Auch hier bietet ein szenarienorientiertes, induktives („bottom-up“) Vorgehen Vorteile bei der Entwicklung tragfähiger Zukunftsmodelle.
Eine besondere Bedeutung im Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung kommt hierbei den Kommunen zu: Wenn der Staat es schaffen will, in der digitalen Welt sowohl die Beziehungen zwischen Bürgern als auch die Beziehung Bürger-Staat auf eine angemessene, nicht von kommerziellen Unternehmen dominierte und unangemessen ausgenutzte Grundlage zu stellen, ist jetzt der letzte Zeitpunkt und die Kommune der geeignete Ansatzpunkt. Die „Smart City“ sollte nicht nur aus intelligenten Parkplätzen und Mülltonnen bestehen, die miteinander kommunizieren, sondern auch aus intelligenten Bürgern, die dies tun – und die vielleicht auch zu neuen Formen der politischen Willensbildung finden (Stichwort: Liquid Feedback). Derartige Anwendungen wären übrigens kein schlechter Ort, sichere Kommunikation einzuführen, die erstens den Namen auch verdient, zweitens als selbstverständlich und systeminhärent erscheint und drittens die Basis für sichere Authentifikationsdienste auch in anderen Bereichen bildet – und der Umgestaltung der öffentlichen Verwaltung nach dem Grundsatz des Business Process Reengineering in vielen Bereichen den Weg ebnen könnte. Wenn man den modernen Staat denn will.
Perspektiven
Bei Politik unter den Rahmenbedingungen der Digitalisierung geht es um nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind sehr komplex.
Die Schlussfolgerung, diese Probleme seien so komplex, dass man nur „auf Sicht fahren“ könne, ist jedoch falsch, denn dieser Weg führt in jedem Fall ins Aus. Richtig ist: Die Digitalisierung ist eine Herausforderung, die Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in hohem Maße fordert – und insbesondere zur systematischen Zusammenarbeit auffordert.
Digitalisierung ist eine querschnittliche, transdisziplinäre Zusammenarbeit erfordernde Aufgabe. Der reine Techniker ist hier Zulieferer – der Politiker, der Unternehmer, der Jurist und viele andere sind aufgefordert, in ihrem Bereich Zukunftsfähigkeit herzustellen und unsere Gesellschaft auf der Basis ihres bestehenden Wertefundamentes zu erneuern. Man könnte das Ziel mit einigem Sinn die Digitale Soziale Marktwirtschaft nennen. Wenn wir es nicht tun, wird in einigen Jahren vom alten Fundament nicht mehr viel bleiben.
Wir dürfen uns nicht durch die Technik und diejenigen, die sie zu ihren Bedingungen einführen, das Heft aus der Hand nehmen lassen. Es gilt der alte Satz: „Die Technik muss dem Menschen dienen, nicht umgekehrt!“ Und der Gesellschaft, möchte ich hinzufügen – alles andere ist Mittel zum Zweck und sollte es auch bleiben.
Literatur
Lanier, J. ( 2013). Who owns the future? New York: Simon & Schuster.
Pousttchi, K. & Goeke L. (2011): Determinants of customer acceptance for mobile data services: An empirical analysis with formative constructs. In: International Journal of Electronic Business 9 (1–2), S. 26-43.
Pousttchi, K. & Hufenbach, Y. (2014): Engineering the value network of the customer interface and marketing in the data-rich retail environment. In: International Journal of Electronic Commerce 18 (4), S. 17-42.
Pousttchi, K.; Dehnert, M. (2018): Exploring the digitalization impact on consumer decision making in retail banking. In: In: Electronic Markets 28 (3), S. 265-286.
Der Beitrag ist in leicht veränderter Fassung in dem Sammelwerk Mayr, R.; Bär, C.; Grädler, T.: Digitalisierung im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Recht, 2018 im Verlag SpringerGabler erschienen. Das Buch wird heute anläßlich der CeBIT in Hannover vorgestellt.